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Lokaljournalismus mit 5000 Meilen Luftlinie

(jm)

MumbaiStellen Sie sich einmal vor, Sie sitzen morgens am Frühstückstisch – und Ihre gewohnte lokale oder regionale Tageszeitung präsentiert sich irgendwie anders als sonst: Im Regionalteil lesen Sie statt der gewohnten »Ortsmarke« Ihres Heimatortes, einer nahegelegenen Großstadt (oder überhaupt einer deutschen Stadt) überall als Ortsmarke »Mumbai«, »Bangalore« und »Delhi«. Sie werden stutzig und unruhig, obwohl: Nach wie vor enthält Ihre örtliche Tageszeitung lokale und regionale Nachrichten. Sie entspannen sich wieder. Vielleicht war das ja nur ein einmaliges Versehen, ein schlechter Scherz. Dennoch: Irgendwie werden Sie das komische Gefühl nicht los, als kenne sich der Redakteur mit den örtlichen Befindlichkeiten und Stimmungslagen neuerdings nicht besonders gut aus. – Sie beschließen, der Sache nachzugehen.

Sie greifen zum Telefonhörer und rufen in der Redaktion an. Ihr Gesprächspartner erklärt Ihnen, ja, das stimme, die Lokalredaktion bestehe ab sofort aus Kostengründen überwiegend aus indischen Journalisten, die ausschließlich via Internet und eMail arbeiteten. Sie erfahren weiter: Ja, Interviews mit lokalen Größen führe man nun von Indien aus per Webcam, und die Videos lokaler Ratssitzungen schicke man zur journalistischen Auswertung extra an einen indischen Journalisten, der selber persönlich ein paar Jahre in Deutschland gelebt habe – und sogar schon mal zwei Tage in Ihrer Heimatstadt verbracht habe. »Ein Glücksfall bei der Personalbesetzung!« jubelt Ihnen die Stimme am anderen Ende der Leitung in den Hörer. – Und irgendwie gelingt es Ihnen nicht, sich mitzufreuen.

Was für deutsche Ohren wie Utopie klingt, befindet sich im amerikanischen Lokaljournalismus seit Jahren in kleinen »Testlaboren«: Beispielsweise übertrug der amerikanische Ex-Textilproduzent James Macpherson mit seiner »Online-Lokalzeitung« „Pasadena Now“ schon kurzerhand die kostenrechnerischen Gepflogenheiten der Textilindustrie auf ein lokaljournalistisches Internetangebot – und lässt die amerikanische »Lokalzeitung« „Pasadena Now“ mittels eines virtuellen Netzwerks indischer Journalisten fast komplett in Indien verfertigen. Das Magazin für politische Kultur »Cicero« berichtete bereits in seiner Februar-Ausgabe; weitere Artikel zum Thema finden Sie beispielsweise beim Kölner Stadt-Anzeiger, beim Deutschlandradio und bei Sebastian Moll.

Natürlich mag ein solches Geschäftsmodell attraktiv erscheinen für einen »Verleger« und  »Chefredakteur« wie Macpherson, der früher als Textilproduzent beruflich in Vietnam nähen ließ. Oder auch für den einen oder anderen deutschen Verlagsmanager mit Söldnermentalität, dem jene »Liebe zum Zeitungmachen« abgeht, von der die Verlegergeneration nach dem zweiten Weltkrieg noch erfüllt war. Wer weiß: Vielleicht hätte ja das eine oder andere entlassungsfreudige Medienhaus ein solches »Geschäftsmodell« bereits mit Kusshand implementiert, wenn es einen größeren Rekrutierungsmarkt deutschsprachiger Inder gäbe? Oder stellen wir die Frage anders: Vielleicht bringen deutsche Zeitungsverleger in Kürze interkulturelle Projekte an den Start, mit denen nicht länger nur Schülerinnen und Schüler deutscher Schulen verstärkt an deutschsprachige Tageszeitungen herangeführt werden sollen, sondern auch Schülerinnen und Schüler indischer Schulen, die dann ein Jahrzehnt später – von Mumbai oder Delhi aus  – mit 5000 Meilen Luftlinie »deutschen Lokaljournalismus« zum Textilindustrietarif betreiben könnten? Wie gesagt: Wer weiß.

Der springende Punkt ist jedoch: Was dem deutschen Verlagsmanager aus der isolierten Bilanz- und Kostenperspektive sinnvoll erscheinen mag, macht aus der Wissensperspektive betrachtet noch lange keinen Sinn. Übersehen werden beispielsweise die immateriellen Erfolgspotenziale, die im individuellen, unwiederbringlich verlorenen Beziehungskapital des einzelnen Wissensträgers liegen, oder in den verloren gegangenen individuellen Zugängen zur Domäne des Kundenwissens. Entlassungen von wichtigen Wissensträgern – wie Redakteuren – aus reinen Kosten- und Renditeüberlegungen beflügeln den Gewinn nicht anders als ein Doping- oder Aufputschmittel: Ein kurzer Höhenflug – gefolgt von einem nachhaltigen Absturz …

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Öfter mal Lineal statt Millionenpaket

schotter1Einer aufmerksamen Leserin verdanke ich den Hinweis auf die schöne DVD »Schotter wie Heu« [2002]. Hauptdarsteller dieses liebevollen Dokumentarfilms ist die Bevölkerung des Örtchens Gammesfeld im Landkreis Schwäbisch Hall; insbesondere Fritz Vogt, geschäftsführender Vorstand der kleinsten Bank Deutschlands. Den Filmemacherinnen Wiltrud Baier und Sigrun Köhler gelang mit diesem 100-minütigen Film eine regionale Miniatur, die dem ZDF damals einen Sendeplatz in der Reihe »Das kleine Fernsehspiel« wert war. Natürlich verhehlt der Film auch nicht die Schattenseiten der ländlichen Mikrowelt; ihre Konflikte, ihre ungeschriebenen Dorfregeln, ihre Abschottung gegenüber Außenstehenden. Deutsche Untertitel (!) auf der DVD erleichtern den Einstieg in den örtlichen Dialekt der Hohenlohe.

»Was ist schon ein Bankräuber gegen einen Bankdirektor«, zitiert Vogt aus Bertolt Brechts »Dreigroschenoper«. Bankbetrieblich organisierten Raub am Vermögen seiner Kunden lehnt er ab – und verweist darauf, dass Raiffeisen seine genossenschaftliche Tätigkeit unentgeltlich ausgeübt habe. Nicht wie jene Banker, die fünf Millionen nur dafür bekämen, dass sie ihren Stuhl räumen müssten, vergleicht Vogt hier schon im Jahr 2001 kontrastreich. Parallel zu den aktuellen Pleiten und milliardenschweren Fehlspekulationen mit anvertrautem Vermögen gesehen, gewinnen die – nur scheinbar dörflich-rückständigen – Ansichten von »Deutschlands einzigem antikapitalistischen Bankdirektor« an ungeheurer Relevanz und Orientierungskraft für die Gegenwart.

Euro-Umstellung zum 1. Januar 2002: Während in der deutschen Bankenlandschaft Projektteams formiert und millionenschwere Software-Updates (mal mehr, mal weniger erfolgreich) auf den Programmierweg gebracht werden, bleibt Fritz Vogt gelassen – und zieht mit Stift und Lineal einfach einen sauberen Strich ins Bilanzbuch. Und nicht etwa auf einem neuen Blatt. Für die Währungsumstellung fange er doch nicht extra eine neue Seite an, räsoniert er; seine Zentrale in Stuttgart kämpft hingegen mit Computerproblemen. Eine elektronische Briefwaage schafft Fritz Vogt ganz schnell wieder ab. Viel zu ungenau, findet er; das mechanische Modell seines Großvaters wiege Briefe um Längen genauer. So skurril es auch anmutet: Vogt organisiert sich und seine Arbeit mit dem Blick aufs Wesentliche, schneidert sich und seiner Bank – zum Wohl seiner Kunden – eher simple statt teure Lösungen auf den Leib. Sein Tiefenwissen orientiert sich am Maß des Menschen: Öfter mal Lineal – statt immer nur Millionenpaket.

Sein designierter Nachfolger Peter Breiter führt die Bank mit Vogts Unterstützung weiterhin in Personalunion – und hat seinen Laptop mitgebracht. Nunmehr mit PC-Unterstützung, wünsche ich Breiter ein ebenso maßgeschneidertes, individuelles »bankbetriebliches Wissensmanagement«, und weiterhin den Blick fürs Wesentliche zum Nutzen seiner Kunden.

Seine erste Mutprobe hat er kürzlich bei einem Überfall bereits bestanden – genau wie seinerzeit Fritz Vogt schlug er eigenhändig Bankräuber in die Flucht. »Wer zeitlebens Psychoterror von oben überstanden hat, der übersteht auch Psychoterror von unten«, so Vogt später. Ob Bankenaufsicht (»Psychoterror von oben«) oder Bankräuber – Peter Breiter wird beides zu spüren bekommen. Ich hoffe, dass der Stabwechsel gelingt.

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